Sarah Maier, Kommunikation und Verteilung
Sarah Maier |

Stefanie Knaab, unsere Gründerin und Geschäftsführerin, spricht im Interview über die unsichtbaren Formen geschlechtsbasierter Gewalt, die oft übersehen werden: psychisch, ökonomisch, sozial oder digital. Sie erklärt, warum echte Prävention bei patriarchalen Strukturen ansetzen muss – und wie die App Gewaltfrei in die Zukunft Betroffene dabei unterstützt, Muster zu erkennen und Hilfe zu finden.

Wo fängt Gewalt an?

Stefanie Knaab: Mit Kontrolle. Diese Form der psychischen Gewalt spielt fast immer eine Rolle in Gewaltbeziehungen – das ergeben auch diverse Studien. Gewalt fängt da an, wo ich mein Leben aufgrund der Beziehung nicht mehr frei gestalten kann/ darf und wo ich mich einschränken muss. Neben der psychischen Gewalt gibt es außerdem ökonomische Gewalt, wenn mein Partner zum Beispiel mein Geld kontrolliert, nicht will, dass ich arbeiten gehe oder Schulden auf meinen Namen eingeht. Soziale Gewalt, wenn mein Partner mich von meinem Umfeld isoliert oder Einfluss nehmen möchte, wo ich hingehen darf und wen ich treffe. Digitale Gewalt, wie zum Beispiel Cyberstalking, wenn mir digital hinterherspioniert wird oder mein Handy überwacht wird oder wenn ich digital beleidigt werde. Doxing fällt auch unter diesem Bereich, dies bedeutet, dass gegen meinen Willen meine Daten (Adresse, Arbeitsplatz, Kontodaten, Versicherungsnummern) veröffentlicht werden. Und sexualisierte Gewalt, die sich ebenfalls als digitalisierte äußern kann, wenn beispielsweise (Nackt-)Bilder von mir ohne mein Einverständnis veröffentlich werden, wenn Deepfakes von mir erstellt und veröffentlicht werden oder mein Partner mich unerwünscht sexualisiert berührt oder ich gegen meinen Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen werde. Körperliche Gewalt ist also nur die Spitze des Eisbergs und wird oft als einzige Gewaltart assoziiert. Dies ist eine der Gründe, warum viele Betroffene sich nicht trauen diese Gewalt mit Expert*innen zu besprechen, da sie befürchten, dass die Gewalt nicht schlimm genug sei oder, dass sie Schuld sind, dass ihnen die Gewalt widerfährt. Gewalt fängt da an, wo das Bauchgefühl unangenehm wird, und Dinge passieren, die ich nicht will und die mir nicht guttun.  

Nehmen die Zahlen tatsächlich kontinuierlich zu oder steigt die Anzeigenbereitschaft?

Stefanie Knaab: Da letztes Jahr erstmal offizielle Zahlen zu geschlechtsbasierter Gewalt und Femiziden veröffentlicht wurden – übrigens eine Erhebung, zu der die Istanbul Konvention Deutschland schon lange verpflichtet – lässt sich das nicht eindeutig sagen. Fakt ist, dass es sich hier nur um die polizeilich bekannten Fälle handelt, also das sog. „Hellfeld“. Um das eindeutig beantworten zu können, bräuchte es eine umfassende Dunkelfeldstudie, die eben jene Fälle beleuchtet, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Eine solche Erhebung ist in Auftrag, die letzte ist leider mehr 21 Jahre alt. Hier kam heraus, dass jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben häusliche,- und sexualisierte Gewalt in der Partnerschaft erleiden musste. In den Jahren gab es kleinere Erhebungen auf Landesebene, zum Beispiel in Niedersachsen von 2022. Diese ergaben, dass nur jede 215. Tat im Kontext Häuslicher Gewalt überhaupt angezeigt wird. Das liegt unter anderem daran, dass leider nicht alle Gewaltformen einen Straftatbestand darstellen. Die Studie ergab außerdem, dass viele Betroffene Angst vor den Folgen einer Anzeige haben oder die Gewalt (noch) gar nicht als solche benennen. Die Studie aus Niedersachsen lässt darauf schließen, dass es sich eher um eine tatsächliche Zunahme von Fällen geschlechtsbasierter Partnerschaftsgewalt handelt.  

Wie sähe echte Prävention und Schutz von Betroffenen aus?

Stefanie Knaab: Die Gesellschaft muss sich grundlegend verändern. Erstmal muss verstanden werden, dass geschlechtsbasierte Gewalt den patriarchalen Status Quo der Gesellschaft aufrechterhält. Sie ist also ein stabilisierendes Konstrukt in einer gewaltvollen, patriarchalen Gesellschaft und verweist auch potenziell Betroffene auf - in der Logik des Patriarchats gesprochen – ihre Plätze mitunter schon durch die bloße Angst vor Gewalt. Wir müssen also sehr früh ansetzen, um misogyne Bilder aus den Köpfen zu bekommen. Dafür braucht es geschlechtssensible und emotionale Bildung schon im frühen Kindesalter. Wir brauchen eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit misogynen und sexistischen Bildern in Literatur und Film sowie in unserer gesamten Kultur. Wir brauchen verpflichtende Täterarbeitsprogramme für gewaltausübende Personen. Und wir brauchen eine konsequente Umsetzung aller Maßnahmen, die die Istanbul Konvention vorsieht. Dazu gehört eine stabile Finanzierung für den gesamten Anti-Gewaltbereich bundesweit, wie es mit dem Gewalthilfegesetz der Ampel-Koalition ursprünglich angestrebt war. In manchen Regionen in Deutschland müssen Betroffene Schutzplätze selbst bezahlen, von denen es in Deutschland momentan nur ca. 6000 und somit fast 15 000 zu wenig gibt, um überhaupt den Mindeststandard zu gewährleisten. Wir brauchen eine ernstzunehmende Armutsbekämpfung und bezahlbaren Wohnraum, denn um es mit Asha Hedayatis Worten zu sagen: Es kann nicht sein, dass sich Betroffene zwischen Gewalt oder Armut entscheiden müssen. Dies sind alles grundlegende und vermutlich teure Unterfangen, aber in Angesicht der alarmierenden Zahlen ist es eine absolute Katastrophe, wenn dieses Geld nicht in die Hand genommen wird.  

Wo setzt die App an und woher kam die Idee?

Stefanie Knaab: Ich war vier Jahre in einer gewalttätigen Beziehung. Meine Therapeutin hat mir damals empfohlen, dass ich mir Briefe schreibe, in denen ich die Gewalt beschreibe. Ich konnte sie in guten und gewaltfreien Phasen der Beziehung lesen und die Gewalt­spirale dahinter erkennen – mein Ex-Partner hat immer gesagt: „So war das gar nicht, das habe ich gar nicht so gemeint, du übertreibst.“ Durch diese Briefe habe ich mich, unter anderem, getrennt. Erst Monate später habe ich gelernt, dass das, was mir passierte Gewalt war. Niemals hätte ich nach ‘Hilfe bei häuslicher Gewalt’ gesucht. Ich wusste also aus erster Hand wie schwer es ist an Informationen zu kommen, vor allem, wenn man nicht weiß, nach was man sucht. Danach habe ich mich mit dem Thema Häuslicher Gewalt auseinandergesetzt und gesehen, wie unfassbar schwer es ist, einen rechtlichen Weg zu gehen, vor allem, was die Beweisbarkeit betrifft. Mit dieser Kombination hatte ich die Idee zu einer App. Diese soll in erster Linie eine Unterstützung für Betroffene darstellen, um ihre Situation reflektieren und sich die angemessene Hilfe holen zu können. Sie soll die Betroffenen dabei unterstützen die Muster zu erkennen. Gleichzeitig soll sie die Dokumentation von zugefügter Gewalt in einem integrierten Gewalttagebuch erstens sicherer und zweitens vor Gericht verwertbar machen, sollten sich Betroffene entscheiden, die Gewalt anzuzeigen. Es soll in erster Linie keine Strafverfolgungs-App sein, sondern ein digitales Tool, dass das Empowerment Betroffener unterstützt. Betroffene können irgendwann realisieren: “Das ist bereits der zehnte Eintrag. Und die Einträge laufen alle ähnlich ab. Das verdiene ich nicht. Das ist nicht okay” 

Was wünscht du dir von der Gesellschaft?

Stefanie Knaab: Ich wünsche mir, dass alle Menschen mehr hinschauen und eingreifen. Gewalt fängt bereits bei sexistischen Kommentaren und Witzen an. Wir brauchen hier vor allem Männer, die anderen Männern sagen: „Das geht so nicht!“ Und: Wir müssen Betroffenen zuhören und ihnen vor allem glauben! Wir haben bereits eine solide feministische Bewegung, die aber noch nicht groß genug ist. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Bewegung, die sich gemeinsam und geschlossen gegen Partnerschaftsgewalt stellt. Und: Wir brauchen Männer, die solches Verhalten in ihrem Freundeskreis nicht tolerieren. Jede vierte Frau ist betroffen. Wir alle kennen Betroffene und wir alle kennen Täter. In jedem unserer Freundeskreise ist jemand, der Gewalt ausübt und das auch weiterhin tun kann, wenn wir degradierendes, sexualisierendes und übergriffiges Verhalten nicht ansprechen und Betroffenen das Angebot machen darüber zu sprechen und, dass man ihnen glaubt.